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Wo ist mein Tränenzimmer

Ich höre einen Missionar. Er spricht für die wirre Kirche, die auf der Straße wirbt. S-Bahn-Brücke Hermannstraße. Er hat seine Bibel dabei, ist nicht von denen, die sie nur wenig geändert haben. Er ist geschickt, fern seiner Herde. Wo soll man beten?, ist seine Frage. Sonst hat sie keiner gestellt. Er hat eine Antwort, danach gibt er Gründe, nach Art der wirren Kirche, ohne Belang. Für ihn ohne Belang. Er lächelt. Beten sollten wir, wo wir weinen würden. Haben wir einen Platz, wo wir hingehen, um zu weinen, dann beten wir da. Drängt es uns, öffentlich zu weinen, beten wir öffentlich. Das stößt auf Unverständnis. Und ufert aus. Mir leuchtet's ein, die Arbeit am Götzen macht neugierig, ich bleibe, spiele den Versucher: "Wo ich mich freue und wo ich lache, da bete ich nicht?" Er ist fünf oder mehr Broschüren losgeworden, hinterher. Eine Dame hätte ihn beinahe geküsst. Er seht still, horcht irgendwie in sich hinein; gleich fällt er um. Dann macht er die Augen auf, die offensten Augen, die ich sah - gleich wird er sie verzückt zum Himmel wenden, nein, er - sieht jeden an, heiter, so kindlich, dass er gewinnt. Wenn man sich freut, dann kann man immer beten, soll man beten. Er schweigt, flugs ist das alte Lächeln wieder da. Ach, Lachen oder Weinen, das ist das Gebet. Und dann, leise, nachsinnend: Und die Küsse auch.

So süß. Der Erfolg wird ihm nicht Recht geben. Auch ich danke ihm bewegt und gehe meiner Wege unbekehrt. Wo lache ich? Hinter mir fegt ein Wind die Leute von der Brücke. Ah, der Himmel, da ist er schon.